Von Markus Groß auf Mittwoch, 16. Juli 2025
Kategorie: IT

Business Impact Analyse – Kein Hexenwerk

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ie Business Impact Analyse (BIA) gilt in vielen Unternehmen als kompliziertes und theoretisches Verfahren, das vor allem Berater oder Auditoren lieben, aber in der Praxis schwer greifbar ist. Tatsächlich ist sie ein zentrales Werkzeug für Business Continuity Management (BCM), Notfallplanung und Informationssicherheit – und weit weniger mysteriös, als ihr Ruf vermuten lässt. Eine gut gemachte BIA beantwortet im Kern eine einfache Frage: Was passiert, wenn ein bestimmter Geschäftsprozess oder ein bestimmtes System ausfällt – und wie schnell müssen wir wieder arbeitsfähig sein? Die Kunst besteht darin, diese Frage strukturiert, nachvollziehbar und in einer Sprache zu beantworten, die alle im Unternehmen verstehen.

Begriffe im Klartext: Prozesskritikalität, RTO, RPO, MAO

Damit alle dasselbe meinen, wenn sie diskutieren, lohnt sich eine klare Begriffswelt:

Diese Kennzahlen sind keine abstrakten IT-Metriken, sondern leiten sich aus Geschäftszielen und Risikotoleranzen ab: Zahlungsverkehr, Produktion, OP-Planung, Kundenportal – überall entscheidet das Business, was „zu spät“ und „zu viel Verlust“ bedeutet.

Vom Bauchgefühl zum System: Der rote Faden einer BIA

Eine belastbare BIA folgt einem nachvollziehbaren Vorgehen:

  1. Scope & Zielbild: Welche Organisationsteile, Standorte, Produkte/Dienstleistungen sind im Fokus? Was wollen wir entscheiden (z. B. Investitionen, Redundanz, Krisenreihenfolge)?
  2. Prozessinventar & Wertstrom: Welche End-to-End-Prozesse produzieren Kundennutzen oder sichern Umsatz/Erfüllungspflichten? Unterstützerprozesse mitziehen, wenn deren Ausfall andere blockiert.
  3. Auswirkungsdimensionen definieren: Finanzen, Recht/Compliance, Gesundheit/Sicherheit, Reputation, Service Level, Umwelt, vertragliche Pönalen – mit Zeitachsen (1 h, 4 h, 1 Tag, 3 Tage, 1 Woche …).
  4. Erhebung & Bewertung: Workshops/Interviews/Datenauswertung; pro Prozess Wirkungen je Zeitfenster einstufen (z. B. „gering/mittel/hoch/katastrophal“).
  5. RTO/RPO & MAO ableiten: Aus den Zeit-Auswirkungsprofilen die Soll-Kennzahlen bestimmen.
  6. Abhängigkeiten und Ressourcen kartieren: Menschen, Rollen, Standorte, Anwendungen, Daten, Infrastruktur, Dienstleister – was braucht der Prozess wirklich?
  7. Priorisierung & Klassifizierung: Prozesse in Kritikalitätsklassen (A–D) einordnen, Wiederanlaufreihenfolge definieren.
  8. Ableitung von Maßnahmen: Notbetriebsverfahren, Redundanzen, Verträge, Backups, Notfallarbeitsplätze, Kommunikationspläne, Tests.
  9. Dokumentation & Freigabe: Ergebnisse für Managemententscheidungen aufbereiten, verbindlich verabschieden.
  10. Review & Pflege: Mindestens jährlich oder bei wesentlichen Veränderungen aktualisieren.

Scope clever wählen: groß genug für Wirkung, klein genug für Tempo

Vollumfängliche BIAs können erschlagen. Praxisbewährt ist ein inkrementeller Ansatz: mit den Top-10-Prozessen („Crown Jewels“) starten, Quick-Wins realisieren, dann iterativ erweitern. Ein sauberer Schnitt nach Geschäftslinien, Regionen oder Produkten verhindert, dass man sich im Detail verliert. Wichtig ist, den Wertstrom zu respektieren: Der Prozess „Auftrag-zu-Cash“ ist End-to-End zu betrachten – nicht nur die Lieblingsstationen einzelner Abteilungen.

Wirkungen messen, ohne sich in Excel zu verlieren

Die größte Effizienzfalle sind überfeine Bewertungsrastern. Stattdessen: klar definierte Stufen mit Checkpunkten. Beispiel für Finanzen:

Und ergänzende Dimensionen:

Pro Prozess werden diese Effekte entlang einer Zeitlinie bewertet. Daraus entstehen „Hitze-Kurven“: Je länger der Ausfall, desto höher die Wirkung. Der Punkt, an dem „hoch“ überschritten wird, markiert typischerweise die RTO. Parallel dazu wird das RPO aus Prozess- und Datenlogik abgeleitet (Bestandstransaktionen, regulatorische Journale, medizinische Dokumentation, Finanzbuchungen usw.).

Abhängigkeiten offenlegen: was der Prozess wirklich braucht

Viele Überraschungen entstehen, weil versteckte Abhängigkeiten erst im Ernstfall auffallen. Eine BIA zwingt zur Ressourcen-Landkarte:

Diese Karte zeigt, ob Arbeitsfähigkeit mit vertretbarem Aufwand herstellbar ist – und wo Kettenreaktionen drohen (ein zentrales Drucksystem legt die Auslieferung lahm, eine nicht ersetzte Schnittstelle stoppt die Produktion).

RTO ist kein „alles oder nichts“: Minimal- und Vollbetrieb definieren

Wiederanlauf heißt selten „alles wie vorher“. Stufenmodelle sind realistisch:

Für jede Stufe werden qualitative Kriterien festgelegt („Wir können XY wieder tun“), damit RTO-Erreichung messbar ist. RPO wird je Datenobjekt konkret (z. B. „Bestellungen dürfen max. 15 Minuten fehlen; Sensorhistorie: 24 h akzeptabel; Patientendaten: 0–5 min“).

Klassifizieren und priorisieren: Ordnung ins Ganze bringen

Mit RTO/RPO und Auswirkungsprofilen lassen sich Prozesse in Kritikalitätsklassen einteilen (A sehr hoch – D niedrig). Die Klassifizierung steuert:

Wichtig: Querbeziehungen beachten. Ein C-klassifizierter Unterstützerprozess kann durch seine Abhängigkeit zu A-Prozessen eine höhere technische Priorität benötigen (z. B. zentrales IAM, Netzwerk-Core).

Methodenmix: Workshop, Interview, Daten – und gesunder Menschenverstand

Eine gute BIA kombiniert:

Die Moderation ist entscheidend: Pragmatisch, entscheidungsorientiert, konfliktfähig. Keine Endlos-Debatten über 5-Minuten-Unterschiede; Ziel ist Entscheidungsreife, nicht mathematische Perfektion.

Von der BIA zur Maßnahme: was konkret entsteht

Die BIA ist nicht das Ziel, sondern die Begründungsschicht. Typische Maßnahmen, die sich anschließen:

Verbindung zu ISMS, ITSM, BCM und Regulierung

Die BIA ist ein Drehkreuz:

Cloud, SaaS, OT: Besonderheiten in modernen Landschaften

Typische Stolpersteine – und wie man sie vermeidet

Reporting, das Entscheidungen auslöst – nicht nur PDFs

Ein gutes BIA-Ergebnis ist visuell und fokussiert:

Weniger ist mehr: Führungsgerechte Kürze im Plenum, Detailanhänge für Fachteams.

KPIs und Governance: BIA als lebender Prozess

Ohne Steuerung verfällt jede BIA. Sinnvolle Kennzahlen:

Ein BCM-Gremium (IT, Fachbereiche, Security, Rechtsabteilung, Einkauf) reviewed quartalsweise den Status und priorisiert Maßnahmen. So bleibt die BIA wirksam statt „formal erfüllt“.

Fallbeispiel 1: E-Commerce – schnell wieder verkaufen

Ein Onlinehändler definierte „Bestellen & Bezahlen & Fulfillment“ als drei Kernprozesse. BIA-Erkenntnisse:

Ergebnis: Bei einem PSP-Incident blieb der Shop online, Zahlungen wurden automatisch umgeleitet, Fulfillment lief mit leichten Verzögerungen weiter. Vertrauensverlust: minimal.

Fallbeispiel 2: Produktionswerk – OT und IT zusammenbringen

Ein Hersteller analysierte „Produktion Linie A/B“, „Qualitätssicherung“, „Instandhaltung“, „Materialversorgung“. BIA-Erkenntnisse:

Ergebnis: Ein Ausfall des Lizenzservers führte nur zu 5 Minuten Unterbrechung – Failover griff, Linie lief.

90-Tage-Plan: BIA mit Wirkung statt in Schönheit

Ziel: Entscheidungsreife statt Vollkaskodokumentation – und erste spürbare Risikoreduktion.

Häufige Fragen – kurz beantwortet

Fazit: Klarheit, Priorität, Handlungsfähigkeit

Die BIA ist kein Hexenwerk, sondern ein Werkzeug, das Klarheit schafft. Sie zwingt Unternehmen, sich ehrlich zu fragen, was wirklich kritisch ist, wie schnell man wieder arbeitsfähig sein muss und welche Mittel man dafür bereitstellen will. Wer diesen Prozess pragmatisch und regelmäßig durchführt, gewinnt Resilienz und Transparenz – ohne lähmende Bürokratie. Vor allem liefert die BIA genau das, was ihr Name verspricht: einen klaren Blick auf die Auswirkungen von Störungen – und eine belastbare Grundlage für Architektur-, Investitions-, Vertrags- und Übungsentscheidungen. Im Ernstfall entscheidet diese Klarheit über Tempo, Kontrolle und Vertrauen – und damit über den Unterschied zwischen gestörter Dienstleistung und beherrschter Krise.

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