Von Markus Groß auf Mittwoch, 27. November 2024
Kategorie: IT

TPRM 2026: Vom Kontrollzwang zur echten Partnerschaft

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s beginnt oft mit einem Formular: zweihundert Fragen, die jeder Lieferant ausfüllen soll; Häkchen bei „ja/nein“, Freitextfelder für „bitte beschreiben“, angeheftet ein PDF mit Zertifikaten. Man schickt es an zehn, fünfzig, hundert Drittparteien – und spürt Erleichterung, wenn die Antwort im Posteingang landet. Doch die Erleichterung ist trügerisch. Spätestens beim ersten Lieferkettenvorfall zeigt sich: Fragebögen sind keine Feuerlöschanlage. Third-Party Risk Management (TPRM), das vor allem aus Kontrolle, Formalitäten und verspäteter Dokumentation besteht, liefert die Illusion von Sicherheit – aber nicht die Fähigkeit, Risiken zu verhindern, zu erkennen und gemeinsam zu bewältigen.

2026 markiert in vielen Häusern einen Wendepunkt. Die Schlagzahl von NIS2-Pflichten, DORA-Anforderungen, Branchennormen, Audit-Nachweisen, SBOM-Erwartungen und KI-Integrationen hat TPRM aus der Compliance-Ecke geholt und in die operative Führung geschoben. Aus „kontrollieren“ wird „kooperieren“. Aus „prüfen“ wird „prüfen und beweisen“. Aus „Dienstleister“ wird „Mitgestalter“. Diese Verlagerung ist kein weicher Kulturwunsch, sondern harte Ökonomie: Nur wer Lieferanten zur Partnerschaft befähigt, erhält die Geschwindigkeit, Transparenz und Resilienz, die moderne Geschäftsmodelle benötigen.

Der Weg dahin führt über drei Einsichten: Erstens, Kontrollzwang scheitert am Tempo, an der Asymmetrie der Information und an der Tiefe der Abhängigkeiten. Zweitens, Partnerschaft heißt nicht „naives Vertrauen“, sondern beidseitige Nachweisfähigkeit – messbar, wiederholbar, rechtlich abgesichert. Drittens, TPRM ist keine „Beschaffungs-Disziplin“ mehr; es ist ein Betriebssystem aus Governance, Technik, Verträgen, Kultur und gemeinsamen Übungen.

Im Folgenden zeichnen wir das Bild eines TPRM 2026, das funktioniert: nicht weil es mehr Papier erzeugt, sondern weil es gemeinsame Betriebsfähigkeit herstellt.

Warum Kontrollzwang nicht mehr trägt

Die klassische TPRM-Logik folgt einem Ablauf: Due Diligence vor Vertragsabschluss, Sicherheitsklauseln in den Vertrag, jährliche Rezertifizierung, vielleicht ein Audit-Recht. Das Problem: Diese Mechanik bewegt sich zeitversetzt zur Realität.

Kontrollzwang reagiert darauf mit mehr Fragen, mehr Klauseln, mehr Freigaben. Das Ergebnis ist Reibung: Fachbereiche beschaffen im Schatten, Anbieter haken mechanisch ab, TPRM-Teams werden zu Archivaren. Was fehlt, ist gemeinsame Lagefähigkeit: die Fähigkeit, Ereignisse in Minuten zu verstehen, Maßnahmen abzustimmen, Varianten zu fahren, nachzuweisen, zu lernen.

Partnerschaft heißt: Nachweis statt Narrativ

Echte Partnerschaft ist kein Kuschelkurs, sondern eine Verabredung zur Prüfbarkeit. Sie beruht auf sechs Prinzipien:

  1. Transparenz-by-Design: Relevante Belege sind maschinenlesbar verfügbar (Audit-Logs, Admin-Events, SBOMs, Build-Attestierungen, Subprozessorlisten, Regionen, Retention-Policies).
  2. Proportionalität: Nicht jeder Lieferant trägt dieselbe Last; Kontrollen orientieren sich an Kritikalität, Datenklassen, Privilegien, Substituierbarkeit.
  3. Reziprozität: Wer harte Anforderungen stellt, liefert eigene Belege zurück (z. B. wie man die Schnittstelle betreibt, segmentiert, überwacht, wie schnell man reagiert).
  4. Ko-Governance: Gemeinsame Gremien, abgestimmte Roadmaps, vereinbarte Übungen, definierte Kommunikationskanäle.
  5. Automatisierung: Continuous Controls Monitoring (CCM) mit API-basierten Nachweisen ersetzt Excel-Rituale.
  6. Portabilität: Exit ist kein Tabu, sondern Designziel: Daten, Konfigurationen, Schnittstellen – dokumentiert, erprobt, zeitlich kalkulierbar.

Diese Prinzipien drehen TPRM vom „Gatekeeper“ zum Enabler: Man ermöglicht sichere Nutzung – schnell, belastbar, nachweisbar.

Das Betriebsmodell: TPRM als Betriebssystem

Ein tragfähiges TPRM 2026 bündelt Governance, Technik, Recht und Kultur in einem operativen Modell, das jeden Lieferanten entlang desselben Pfades führt – flexibel in der Tiefe, konsequent in der Logik.

1) Entdecken und Einordnen: Von der Liste zur Landkarte

Die Grundlage ist eine Landkarte statt einer Tabelle. Sie erfasst:

Daraus entsteht eine Kritikalitätsbewertung (Tiering), die nicht nur Impact (Auswirkung) misst, sondern auch Hebelwirkung (Privilege × Reichweite × Substituierbarkeit). Sie entscheidet über Tiefe der Prüfung, Monitoring-Pflichten, Vertragsstrenge, Übungsfrequenz.

2) Due Diligence 2.0: Belege statt Beruhigung

Fragebögen bleiben, aber sie werden schlank und zielgenau. Entscheidend sind Belege:

Der entscheidende Unterschied: Belege kommen nicht als PDF-Friedhof, sondern als API, signierte Dateien oder standardisierte Exportformate. Sie gehen in eigene Kontrollsysteme ein – wiederholbar, versionierbar, auswertbar.

3) Verträge mit Substanz: Sicherheit, Melden, Exit

Vertragstexte werden hart, aber fair – und vor allem praktikabel:

4) Technische Leitplanken: Zero Trust als Normalfall

TPRM wird zum Technikthema – bewusst:

5) Überwachung als geteilte Aufgabe

Monitoring ist kein einseitiges „schickt uns mal Logs“, sondern wechselseitige Lagearbeit:

6) Ko-Governance: Gremien, die arbeiten

Partnerschaft braucht Routinen:

Technologietriebwerke: Wie TPRM 2026 Tempo gewinnt

SBOM & DBOM als Standardbauteile

SBOM (Software Bill of Materials) ist kein Trend, sondern Infrastruktur. 2026 ist es üblich, dass kritische Produkte eine SBOM je Release bereitstellen. Ebenso wichtig: DBOM – welche Datenflüsse existieren, wozu, in welchen Regionen, mit welchen Retention-Regeln? Ohne DBOM bleibt NIS2-Meldelogik Bauchgefühl.

Build-Attestierungen, Signaturen, Provenance

SLSA-Level, cosign-Signaturen, Provenance-Files: Sie machen die Updatekette prüfbar. Der Kunde verifiziert, bevor er ausrollt; der Anbieter liefert Nachweise pro Artefakt. Damit wird aus „Vertrauen“ ein Prozess.

OAuth- und Marketplace-Governance

„Connect with …“ ist zur Standardgeste geworden. TPRM sorgt dafür, dass Admin-Consent, Scope-Reviews, App-Allowlists, Rezertifizierung und Logging Default sind. Für kritische Plattformen existiert ein interner App-Store: geprüft, markiert, abgestimmt.

Secrets- und Key-Management

API-Keys sind Passierscheine. 2026 sind Vaults, Kurzläufer, Rotation, Scope-Eng selbstverständlich – plus Anomalieerkennung. Kein Key in Dateien, niemals in Tickets, niemals in Build-Logs.

AI-Governance an der Schnittstelle

KI ist überall – und damit auch Egress-Risiko. Ein AI-Gateway filtert PII/Secrets, setzt Policies, erzwingt No-Training-Pfade, versieht Anfragen mit Labels (Datenklasse, Zweck), trennt rote Zonen. Für Lieferanten gilt das spiegelbildlich.

Metriken, die Verhalten verändern

Gute Metriken sind Handlungshebel. Sie zeigen, was wichtig ist, und machen Fortschritt sichtbar.

Diese Metriken gehören ins Board-Reporting – nicht als Dekor, sondern als Steuerung.

Fallvignetten: Partnerschaft in der Praxis

Die Bank und der MSP

Ein Institut betreibt Endpunkt- und Verzeichnisdienste mit einem MSP. Früher: Dauer-Admin, E-Mail als Kanal, monatliche Service-Calls. 2026: JIT über PAM, Sessions aufgezeichnet, Admin-Events als Feed, gemeinsames QRB, Tabletop „MSP-Token-Abfluss“. Ergebnis: Ein echter Vorfall wird binnen 30 Minuten erkannt, binnen 90 Minuten eingegrenzt, Frühwarnung nach 2 Stunden, keine Kundenauswirkung – dokumentiert, belastbar.

Der SaaS-Kern und die OAuth-Flut

Ein SaaS-Anbieter ermöglicht Dritt-Apps. Früher: wilder Marktplatz. 2026: Admin-Consent, Scope-Kataloge, Rezertifizierung, Anomalieerkennung für App-Verhalten. Kunden sehen sichtbar, welche Apps geprüft sind. Ein Lieferkettenvorfall bei einer App bleibt lokal – schnell isoliert, sauber kommuniziert.

Industrie & OT-Partner

Ein Fertiger bezieht OT-Software-Updates. Früher: manuelles Patchen, späte Information. 2026: SBOM, signierte Artefakte, verifizierte Provenance, Staging-Gates. Ein kompromittiertes Update bleibt im Staging hängen; der Partner meldet binnen Stunden, liefert Hashes, Workarounds, gefixten Build. Produktion bleibt stabil.

Gesundheitsverbund & Bilddaten-Cloud

Ein Verbund nutzt eine Bilddaten-Cloud. Früher: langer Vertrag, wenig Einsicht. 2026: DBOM der Datenflüsse, Retention klar, Regionen fest, Notfallspiegel lokal, jährliche Exit-Probe für Teilmengen. Als die Cloud 24 Stunden drosselt, schaltet der Verbund in den Read-only-Modus – Versorgung gesichert, Meldung abgestimmt, Vertrauen gewahrt.

Anti-Patterns: Was 2026 sicher scheitert

Rollen und Verantwortlichkeiten: Wer führt, gewinnt

TPRM 2026 braucht klare Rollen:

Wichtig: Ein Team führt in der Lage. Keine geteilte Verantwortung, keine E-Mail-Stille.

Kultur: Strenge, die Respekt zeigt

Partnerschaft entsteht nicht im Vertrag, sondern im Umgang. Strenge heißt nicht Härte, sondern Respekt vor der gemeinsamen Aufgabe:

Ein Reifegradmodell als Wegweiser

Level 1 – Reaktiv: Fragebögen, Vertragsanhänge, sporadische Reaktion, unklare Rollen.
Level 2 – Strukturiert: Tiering, Standardklauseln, Rezerts, einfache Dashboards.
Level 3 – Integriert: SBOM/DBOM, PAM/JIT, OAuth-Governance, Provider-Telemetrie, Tabletop-Übungen.
Level 4 – Kollaborativ: QRBs, gemeinsame Roadmaps, Belege per API, Exit-Proben, Meldekoordination.
Level 5 – Ökosystem: Branchenweite Feeds, geteilte Kontrollen/Standards, Benchmark-Metriken, gemeinsame Notfallkapazitäten.

Nicht jedes Unternehmen muss Level 5 erreichen. Aber Level 3 ist 2026 das Minimum, um Melde-, Audit- und Betriebsfähigkeit zu sichern; Level 4 macht TPRM zum Wettbewerbsvorteil.

Schluss: Partnerschaft ist die härteste Form von Kontrolle

„Vom Kontrollzwang zur Partnerschaft“ klingt weich – ist es aber nicht. Es ist die härteste Form von Kontrolle: selbstbewusst, datengestützt, wiederholbar, zeitnah. Kontrolle, die ermöglicht, statt zu blockieren. Kontrolle, die gemeinsam getragen wird, weil beide Seiten gewinnen: weniger Reibung, mehr Tempo, klarere Nachweise, höhere Resilienz.

TPRM 2026 ist damit kein Schild an der Schranke, sondern die Tragstruktur moderner Wertschöpfung. Dort, wo Kundenerlebnis auf Drittleistung trifft, entscheidet sich, ob Unternehmen in kritischen Momenten handlungsfähig bleiben. Wer Partner zu Mitgestaltern macht, baut kein Risiko aus – er baut Zukunftsfähigkeit. Denn am Ende ist es einfach: Ohne Partner geht es nicht. Ohne Partnerschaft erst recht nicht.

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